Interview mit Ex-Schriftsteller und Technischem Redakteur Dr. Sebastian Keller

Autoreninterview mit Ex-Schriftsteller und Technischem Redakteur Dr. Sebastian Keller (Moosburg):

Karin: Bei dir gibt es so viele Anknüpfungspunkte, aber lass mich bei deinem Schreiben anfangen: Du warst früher einmal Romanautor und bist wieder "ausgestiegen". Für viele ist das Schreiben als professioneller Autor ein Lebenstraum. Was hat dich dazu bewogen, dich auf diese Reise "heraus" zu begeben? Welchen Herausforderungen oder vielleicht sogar Vorbehalten (eigene oder von anderen Menschen) bist du begegnet?

Sebastian: Ja, der Traum vom Dasein als professioneller Autor … Den hatte ich auch. Weil ich mich seit meiner Kindheit als Autor definiert habe und wahrscheinlich auch, weil ich anfangs den gleichen Fehler gemacht habe wie die meisten angehenden Schriftsteller: Ich habe mehr oder weniger kopiert, was ich gelesen habe und es für meine eigenen Ideen gehalten. Auch die Idee vom Schriftstellerdasein. Der Traum vom Schriftstellerleben ist eines dieser Klischees, bei denen jeder sich selbst für die Ausnahme hält. Und das ist für die Literatur eine gute Sache, denn sonst würden viel weniger Bücher geschrieben.

Das Beste was einem Schriftsteller passieren kann, ist, so spät entdeckt zu werden, dass er bei seinem Stil keine Kompromisse eingeht, auch wenn ein Verlag oder Lektor Änderungen wünscht, die das Buch markttauglicher machen, aber früh genug, dass er selbst auch noch was davon hat. Max Brodt hat dafür gesorgt, dass Kafkas Werke nicht vergessen wurden, aber damit hat er Kafkas Wunsch verraten, dass nach seinem Tod alles verbrannt wird. Ich bin ganz auf Kafkas Seite und habe großen Respekt vor all den Autoren, von denen wir nie wissen werden, weil ihre Werke mit ihnen gestorben sind.

Schreiben war für mich tatsächlich eine Reise. Vor allem nach innen. Wer Fantasy mag, kennt wahrscheinlich die Freude sich einfach nur die Landkarte anzusehen, die Ortsbezeichnungen darauf zu lesen und sich vorzustellen, was dort wohl passiert sein mag. Mit jedem meiner Bücher habe ich einen weiteren weißen Fleck auf der Landkarte gefüllt.

Und dann gab es plötzlich keine weißen Flecken mehr.

Das war erschreckend. Eine existenzielle Krise. Ein gewaltiger Teil, der mein Leben definiert hat, war plötzlich weg. Das hat alles in Frage gestellt. Was, wenn es mir mit meiner Beziehung, Religion, Arbeit etc. auch so gehen würde? Ich war mir so sicher, dass ich immer Schriftsteller sein würde und dann war ich es plötzlich nicht mehr. Die Unsicherheit hat etwa ein halbes Jahr angehalten. Danach habe ich mich daran gewöhnt.

Inzwischen bin ich nur noch erstaunt, wie hartnäckig sich das Klischee vom Schriftsteller bei anderen Menschen hält. Für die meisten bin ich immer noch der Schriftsteller. Und sie lassen sich auch nur schwer davon überzeugen, dass sich das geändert hat.

 

Karin: Was machst du jetzt beruflich, wie gefällt es dir und warum machst du es?

Sebastian: Nachdem ich 10 Jahre lang freiberuflicher Texter und Übersetzer war, habe ich mich rechtzeitig genug als Technischer Redakteur headhunten lassen, dass pünktlich nach Ende meiner Probezeit die Corona-Krise kommen konnte.

Ich kümmere mich zusammen mit einer Kollegin um das Handbuch zu einer Software für industrielle Bildverarbeitung. Das bedeutet, dass ich zu ca. 10% Texte auf Englisch verfasse, zu 30% HTML- und CSS-Codes anpasse, zu 30% in Meetings sitze und 30% mit organisatorischen Aufgaben verbringe. So lange das Leben keine wichtigere Mission für mich hat, finde ich das – und vor allem das damit verbundene Gehalt – nicht übel.

Daneben suche ich mir immer wieder Pro-Bono-Projekte, die spannender sind.

 

Karin: Was ist deine Lebensphilosophie? Hat sie sich mit dem "Ausstieg" aus dem Romaneschreiben verändert, oder hat sie dich erst dazu bewogen, etwas anderes zu machen?

Sebastian: Meine Lebensphilosophie ist nach wie vor von Büchern geprägt. „Cat’s cradle“ von Kurt Vonnegut hat nach wie vor einen großen Einfluss auf mich. Und die beste Zusammenfassung für meine Lebensphilosophie stammt aus „Calvin und Hobbes“ von Bill Watterson: „Man is tiger food“.

Ich halte mich gern für was Besonderes (Hey! Ich werde sogar interviewt!), aber auch nur weil es noch anstrengender ist, sich nicht für was Besonderes zu halten.

 

Karin: Wie schreibst du? Für jeden Text anders, oder hat sich eine Strategie besonders für dich bewährt? Hörst du Musik dabei (welche)?

Sebastian: Ah, die Standardfragen ^__^ Ich habe viel an Schreibgeräten und –techniken ausprobiert, aber keinen großen Unterschied feststellen können. Außer beim Diktieren von Texten. Anscheinend kann ich nicht schneller konsistent und grammatikalisch korrekt denken als ich tippen kann. Wenn ich Texte übersetze und damit eine Vorgabe habe, bin ich mit Spracherkennungs-Software ca. 20% schneller. Meine literarischen Texte musste ich sowieso einige Male überarbeiten, da war es egal, ob ich den ersten Entwurf mit Bleistift, Schreibmaschine oder Feder verfasst habe.

Schreibaktionen wie der NaNoWriMo haben für mich nie funktioniert.

Ansonsten gehe ich vollkommen d’accord mit dem, was Ray Bradbury in „Zen in the Art of Writing“ als Tipps gegeben hat.

Musik: Ja, wenn ich Störgeräusche ausblenden will. Meist ohne Lyrics. Soundtracks funktionieren ganz gut. Oder nebenbei Pornos laufen lassen. Das Gehirn lernt irgendwann die Verbindung zwischen körperlicher Erregung und Schreiben herzustellen so wie der Hund von Pawlow.

 

Karin: Da du einmal auf der "Nerd Nite" in München vorgetragen hast: Was ist der "Nerd" an sich, und wie können wir den Nerd in uns wachrufen? Sollten wir das überhaupt? Hat jede/r einen? Was machen wir dann mit ihm/ihr, wenn er/sie da ist?

Sebastian: Der Nerd an sich ist jemand, der sich intensiv mit etwas beschäftigt, ohne dabei in erster Linie an den Nutzen für die Gesellschaft zu denken. Die ersten Nerds haben Steine in lustige Formen geschlagen oder Tiergeräusche nachgeahmt, später haben Nerds aus Zufall Dinge erfunden, die andere dann auch toll fanden: die Keilschrift zum Beispiel oder Heraldik.

Ich bin gerade den Menschen sehr dankbar, die „Circular Gallifreyan“ entwickelt haben. Einfach schön …

Wenn man den Nerd in sich erst wachrufen muss, hat man ihn wahrscheinlich gar nicht, oder einen, der in dieser Zeit nicht (mehr oder noch nicht) existiert. Auch im Mittelalter gab es bestimmt Menschen, die das Zeug dazu gehabt hätten sich wie Bill Gates von der Garage zum Weltkonzern durchzunerden. Aber mangels Garagen haben sie sich damit begnügt, Rüben zu züchten. Ergo gibt es heute auch jede Menge Menschen, die einfach in der falschen Zeit geboren wurden und ihren Nerd nie kennenlernen werden. Seid nicht zu streng mit ihnen, sie können nichts dafür.

 

Karin: Als Leser, was liest du am liebsten? Liest du überhaupt noch gerne Bücher? Wenn nein, warum nicht? Sollten wir Bücher lesen oder empfiehlst du etwas anderes?

Sebastian: Als Ex-Schriftsteller ist meine Lust am Lesen zurückgekommen. Erstens weil ich mich nicht mehr wundere, wie derart schlechte Bücher gedruckt werden können, wo es genügend bessere ungedruckte Bücher gibt. Zweitens weil ich nicht mehr automatisch hinter die Kulissen von Wortwahl, Story-Aufbau und Übersetzung blicke. Und drittens weil ich mir nicht mehr denke, dass ich in der Zeit, in der ich ein Buch lese, auch ein neues Kapitel hätte schreiben können.

Es ist zwar seit vielen Jahrhunderten eine recht unpopuläre Meinung, aber Bücher waren vielleicht ein Fehler. Überhaupt die Schrift. Wörter machen etwas mit unseren Gehirnen und wir haben im Grunde keine Ahnung, was. Wir können Wörter nicht nicht lesen. Um einen kleinen Einblick zu bekommen, wie die Welt vor den Büchern war, empfehle ich mehr auswendig zu lernen. Ein oder zwei Aventiuren des Nibelungenlieds zum Beispiel.

Und ja, ich bin mir bewusst, dass ich meine Skepsis zur Schrift in geschriebener Form äußere. Aber praktisch muss nicht unbedingt auch uneingeschränkt gut sein …

Die anderen Alternativen wie Fernsehen, Computerspiele, Comics, etc. sind sowieso bekannt und beliebt genug, für die muss man nicht extra Werbung machen.

 

Karin: Hast du ein Lieblingswetter oder -klima, bei dem du am besten schreiben kannst? Eine bevorzugte Jahreszeit? Wo schreibst du am liebsten?

Sebastian: Cory Doctorow hat vor ein paar Jahren mal das Experiment gestartet allerhand Daten wie Wetter, Musik, etc. in Korrelation zu seinem Schreib-Output zu setzen. Ich glaube es ist nicht viel an Erkenntnissen dabei herausgekommen. Geht mir auch so.

Ich habe immer am liebsten auf dem Planeten Erde geschrieben. Es ist der einzige, der für mich erreichbar ist. Woanders würde ich es spaßeshalber vielleicht noch mal ausprobieren.

 

Karin: Hast du andere Talente als das Schreiben? Wenn ja, von welchen möchtest du uns erzählen?

Sebastian: Ich kapere die Frage einfach mal, um den einen Test loszuwerden, mit dem man innerhalb von 5 Sekunden herausfindet, ob man das Zeug zum Schriftsteller hat:

Nimm Dein Lieblingsbuch. Schreib es ab. Wort für Wort. Das ist dann ein Bruchteil der Arbeit, die Du mit Deinem eigenen Buch haben wirst.

 

Karin: Gibt es ein Buch, das dein Leben verändert hat? Das dir eine so neue, tiefe Einsicht gegeben hat, dass es dich auf grundlegende Weise erneuert oder beeinflusst hat?

Sebastian: Ja, mehrere. Ich bin aus der Kirche ausgetreten, nachdem ich die Bibel komplett gelesen hatte. Nach „Dead Poets Society“ habe ich eine alte Flamme von mir angerufen, mit der ich 9 Jahre nichts mehr zu tun hatte. Nach „Full Moon Soup“ habe ich ungefähr 20 Jahre lang gesucht, weil ich den Titel nicht mehr wusste. (Und habe herausgefunden, dass es einen 2. Teil gibt!). „Legend“ von „David Gemmell“ lese ich jedes Jahr, weil die Angst vor dem Tod ein wirklich guter Grund ist, ein Buch zu schreiben. Mit „The Lord of the Rings“ lerne ich gern neue Sprachen. Das „Bayerische Kochbuch“ ist eines meiner liebsten Familienerbstücke. „House of Leaves“ ist wahrscheinlich das einzige Buch, das mir noch immer Angst macht.

Am meisten beeinflusst haben mich vielleicht die Bücher, bei denen ich als Testleser oder Berater beteiligt war. In einem bin ich sogar als einer der Protagonisten aufgetaucht. Das gleicht all die Leute aus, die „irgendwann ihren Roman schreiben“ wollen und ständig mit den Ideen nerven, aus denen nie etwas wird. Aus denen entsteht in Phantasien das Nichts …

 

Karin: Und schließlich: Welches deiner Werke sollten wir unbedingt lesen?

Sebastian: Das könnte ein wenig kniffelig werden. Ich habe das Schreiben an und für sich aufgegeben, aber einer Gattung bleibe ich nach wie vor treu: Dem Wandernden Buch.

Die Idee dahinter ist, ein Notizbuch zu nehmen, ihm etwas anzuvertrauen und es dann weiterzugeben. Das kann was Persönliches sein, was Schönes oder was komplett anderes. So eine Art Mischung aus Poesiealbum, Facebook und Tagebuch. Nach und nach füllt sich das Buch mit den unterschiedlichsten Geschichten, Fragen, Gedanken, Bildern und seltsamen Flecken. Eine Welt, die man andernfalls nie zu Gesicht bekommen hätte, irgendwo zwischen Literatur und Wirklichkeit.

Aber Du kannst ja selbst eines schreiben. Vielleicht in Circular Gallifreyan.

 

Links

Amazon: https://www.amazon.de/Sebastian-Keller/e/B0043BX8G0?ref=sr_ntt_srch_lnk_15&qid=1596708498&sr=1-15

Sonstiges: https://soundcloud.com/king_haggard/tracks