Gespräch mit Dr. Oliver Hawlitschek (Hamburg), Biologe, Fachbuchautor und Reptilienspezialist: Er erzählt uns von Chamäleons und den Komoren, einem Ort voller fantastischer Wunder

 

1) Hi Olly, willkommen! Normalerweise interviewe ich nur Autor*innen oder andere Kunstschaffende, die mit fantastischer Literatur zusammenhängen. Weil du dich aber mit Wesen beschäftigst, die von Natur aus fantastisch sind, passt du hier super dazu. Danke, dass du dir die Zeit für uns nimmst! Erzähl doch mal: Welche Wesen sind das und was findest du an ihnen besonders faszinierend? Wie hast du deine Liebe für sie entdeckt?

Hi Karin, freut mich, dass Du da für mich eine Ausnahme machst. Und es freut mich besonders, dass Du die Wesen, mit denen ich arbeite, fantastisch findest – so wie ich! Seit meiner Kindheit haben mich alle Tiere und die gesamte Natur fasziniert, und mir war seit damals klar (mit einigen kurzen Ablenkungen in der Pubertät), dass ich Biologe werden wollte. Und so kam es! Ich glaube, ich bin weder außergewöhnlich begabt noch außergewöhnlich klug, aber war immer außergewöhnlich motiviert – und das hat mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin.

Hauptsächlich beschäftige ich mich seit meinem Studium mit der Tierwelt Madagaskars und einer nicht weit entfernten Gruppe vulkanischer Inseln: den Komoren. Dort gibt es viele einzigartige Tier- und Pflanzenarten, aber auch heute noch sind sie sehr schlecht erforscht. Deswegen waren und sind die Komoren gewissermaßen meine wissenschaftliche Spielwiese! Und mittlerweile auch irgendwie eine Art zweites Zuhause.

Ich denke, ich darf in diesem Rahmen mal ein paar vermenschlichende Adjektive verwenden! Dort flitzen smaragdgrüne Taggeckos mit sympathischen Kulleraugen über lila Bananenblüten, während weiter oben im Mangobaum Flughunde in der Nachmittagssonne wortwörtlich abhängen und dabei wie alte Nachbarn ihre milden Zankereien austragen. Nektarvögel schwirren wie fliegende Edelsteine von Blüte zu Blüte, bis übergangslos die Nacht hereinbricht und Wolfszahnnattern mit riesigen Katzenaugen aus ihren Verstecken kriechen, um im Geäst schlafende Chamäleons aufzuspüren. Wenn das nicht fantastisch ist, dann weiß ich nicht, was sonst!

 

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Furcifer polleni

 

2) Was ist deine neueste Entdeckung? Wie hast du sie entdeckt und wo?

Der neueste Streich ist das Nano-Chamäleon, dessen ausgewachsene Männchen nur 13 mm lang werden und damit das kleinste "höhere" Landwirbeltier ist. Nur einige Arten von Fröschen bleiben noch kleiner. Solche Rekorde kommen natürlich in der Presse gut an, zumal, wenn es auch um Sex geht: Denn die Begattungsorgane des männlichen Nano-Chamäleons machen ganze 18% seiner Körperlänge aus, was bei einem Menschen von 170 cm einer Länge von 30,6 cm entspräche. Dies ist wahrscheinlich eine Anpassung daran, dass die weiblichen Nano-Chamäleons mit 19 mm immer noch winzig sind, aber doch deutlich größer als die Männchen, sodass die Fortpflanzung nur mit der entsprechenden Anatomie überhaupt gelingen kann.

Wir haben das Nano-Chamäleon bereits 2012 im Rahmen einer Expedition mit mehreren Wissenschaftlern, Wissenschaftlerinnen und Feldassistenten auf einem abgelegenen Berg auf Madagaskar entdeckt. Danach hat es aber einige Zeit gedauert, zu verifizieren, ob es sich dabei wirklich um eine neue Art handelt. Und dann mussten wir die wissenschaftliche Beschreibung anfertigen, die die Art formell als neu anerkennt. Da dies üblicherweise auch molekulargenetische und anatomische Untersuchungen sowie die Begutachtung durch nicht an der Studie beteiligte Kolleg*innen beinhaltet, hat das bis 2021 in Anspruch genommen.

Solche Entdeckungen sind heute fast immer Teamarbeit, aber es ist dabei schon ein besonderes Gefühl, wenn man selbst das Tier findet und vor allem auch, wenn man feststellt, dass es eine neue Art sein könnte. Das Nano-Chamäleon hat eigentlich einer unserer Feldassistenten gefunden. Auf den Komoren habe ich aber z.B. den Sternenhimmelgecko entdeckt. Wir haben ihn so genannt, weil er nachtschwarz mit strahlenden weißen Punkten ist. Solche Entdeckungen sind schon besondere Momente in meinem Leben, die ich nicht vergesse.*

 

3) Du hast dazu einige Interviews gegeben, u.a. für die BBC World News. Wer hat die Pressearbeit dazu gemacht und wie sind die Interviews entstanden? Wurdest du angefragt oder habt ihr eine Pressemeldung herausgegeben?

Es gibt da bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse eine Art Standardablauf. Solche Ergebnisse werden ja zuerst (und aus unserer Sicht vor allem) in wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert. Sobald wir das Publikationsdatum einer solchen Arbeit kennen, erarbeiten wir mit der Presseabteilung eines der beteiligten Institute, manchmal auch mit der des wissenschaftlichen Verlages, eine Pressemitteilung. Diese wird dann am Tag der Veröffentlichung der Ergebnisse an Presseagenturen versandt. Parallel dazu machen wir als Autor*innen meist selbst Werbung in den sozialen Medien, v.a. auf Twitter (wobei ich selbst Twitter gar nicht verwende, sondern nur Facebook). Je nach Interesse melden sich dann die Medien bei uns, und da wir ja in Teams veröffentlichen, reichen wir uns die Interviews auch gegenseitig weiter. Beim Nano-Chamäleon hat der Rummel ganze zwei Wochen angehalten. Manche Artikel kommen bei der Presse aber auch überhaupt nicht an. Ich denke aber, dass insbesondere in Corona-Zeiten gute Nachrichten, so wie die Entdeckung einer neuen Art, besonders gerne gesendet werden.

 

Ausschnitt Buchcover

 

4) Dein Buch "Terrestrial fauna of the Comoros Archipelago" (2020) war ja unabhängig davon ein längerfristiges Projekt von dir und deinen Autorenkollegen. Ich finde euren Ansatz interessant, und sicher auch für andere Autor*innen hilfreich. Ihr habt nämlich bewusst ohne die üblichen Buchriesen gearbeitet und seid einen anderen Weg gegangen. Erzähl uns mal: Wie habt ihr das angestellt? Wie habt ihr euer Buch veröffentlicht? Warum auf diesem Wege?

Wir haben das Buch komplett im Eigenverlag produziert und auch selbst vertrieben. Das hat natürlich Vor- und Nachteile. Zuerst hatten wir uns an einschlägige Verlage gewandt, haben die Idee dann aber verworfen. Das ging, weil wir nicht beabsichtigen, mit dem Verkauf unseres Buchs Gewinn zu machen und keiner von uns darauf angewiesen ist. Uns ging es mehr darum, unser Wissen und unsere Daten möglichst breit verfügbar zu machen, weswegen der Text des Buchs auch komplett zweisprachig auf Englisch und Französisch ist. Wir wollten den Verkaufspreis so niedrig halten, dass möglichst viele Leute sich das Buch kaufen können. Zur Zielgruppe gehören Studierende und auch die Bevölkerung der Komoren, die insgesamt sehr arm ist. Weiterhin wollten wir einige Dutzend Bücher an NGOs spenden, die auf den Komoren arbeiten. Das hätte keiner der Verlage, mit denen wir verhandelt haben, mitgemacht. Manche Verlage behaupten sogar, dass Leute das Buch eher kaufen, wenn es teurer ist. Das mag stimmen, diese Leute sind aber nicht unsere eigentliche Zielgruppe und ich unterstütze diese Politik auch nicht. Stattdessen haben wir das Buch über eine Crowdfunding-Kampagne auf Ulule finanziert und 4000 EUR eingenommen. Danach bekamen wir eine Vorbestellung von 250 Exemplaren vom Umweltamt auf den Komoren. Damit waren ca. 550 Bücher vorbestellt und unsere Kosten für eine Auflage von 1000 Stück gedeckt.

Nach dem erstaunlich preiswerten Druck bei einer lokalen Druckerei stand dann also eine gute halbe Tonne Bücher in meiner Wohnung. Zuerst hatten wir vor, das Buch einfach auf Amazon anzubieten. Wir haben uns aber dann aufgrund der Politik des Konzerns gegen Amazon entschieden. Auch das konnten wir uns leisten, da wir ja nicht auf hohe Verkaufszahlen angewiesen sind. Ansonsten haben wir einen Vertriebsvertrag mit NHBS aufgesetzt, das ist eine naturkundliche Buchhandlung in England, und einige lokale Buchläden des Indischen Ozeans haben Bücher bei uns bestellt. Es gab auch Bestellungen von Leuten, die über die Facebook-Seite vom Buch erfahren haben. Da war die Crowdfunding-Kampagne unsere beste Werbung.

Print on Demand war nie eine Option für uns. Erstens wussten wir ja von Beginn an, dass wir mindestens einige hundert Bücher brauchen würden. Zweitens sollte das Buch in hoher Papierqualität und mit vielen farbigen Abbildungen produziert werden, was Print on Demand selten für einen guten Preis leisten kann. Unsere Druckerei hat mich bestens betreut und mir Muster geschickt, an denen ich diese Parameter auswählen konnte.

 

5) Gab es besondere Herausforderungen? Falls ja, wie seid ihr ihnen begegnet?

Eine der größten Herausforderungen war, das Buch zweisprachig zu schreiben. Meine beiden Mitautoren sind Franzosen und haben ihre Texte auf Französisch geschrieben, die ich dann auf Englisch übersetzt habe. Andersherum habe ich auf Englisch geschrieben und sie es übersetzt. So haben sich viele Fehler und Inkonsistenzen eingeschlichen, und wir haben wirkliche viele Runden Korrekturlesen gebraucht, um das halbwegs hinzubiegen. An dieser Stelle nochmal vielen Dank an alle, die uns dabei geholfen haben.

Ich glaube, ohne die Pandemie wäre das Buch nicht 2020 erschienen, sondern viel später. Da wird zu dritt in enger Korrespondenz stehen mussten, gab es oft Verzögerungen durch Dienstreisen und stressige Phasen in unserer jeweiligen Arbeit. Oft hatte ich selbst auch keine Lust, mich nach einem anstrengenden Arbeitstag wieder den ganzen Abend oder das ganze Wochenende an den Computer zu setzen. Im Frühjahr 2020 waren wir dann alle im Home-Office, in der Arbeit war es relativ ruhig, und da sind wir wirklich gut vorangekommen.

 

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 Die Autoren Rémy Eudeline, Oliver Hawlitschek und Antoine Rouillé

 

6) Was nimmst du aus dem Jahr 2020 mit? Würdest du deine Herangehensweise auch anderen Menschen empfehlen, die ein Buch (gleich welcher Art) veröffentlichen möchten?

Ich kann mir gut vorstellen, dass 2020 viele Buchprojekte gut vorangekommen sind, die sonst viel länger gedauert hätten. Das ist aber nicht automatisch so! Bereits in den ersten Wochen Home-Office haben viele meiner Kolleg*innen auf Facebook stolz gepostet, was sie schon alles fertiggeschrieben haben. Das hat mich ein bisschen unter Druck gesetzt, und dann ging die Arbeit am Buch erstmal nicht so gut. Zu diesem Zeitpunkt war ich richtig froh, dass ich zwei Mitautoren hatte und wir das Ganze als Team angehen konnten. Ich glaube, wir haben einander wirklich sehr stark gegenseitig motiviert, was nicht nur bei der Arbeit am Buch geholfen hat, sondern mir auch insgesamt sehr dabei geholfen hat, mit der Situation umzugehen.

 

7) Was liest du sonst für Bücher? Wer sind deine Lieblingsautor*innen und warum bedeuten sie dir so viel?

Ich lese in meiner Freizeit gerne Science Fiction und Fantasy! Anfangen möchte ich aber mit populärwissenschaftlichen Büchern. In den 1990ern hat mich Edward O. Wilson mit seinen Büchern über den Wert unserer biologischen Vielfalt inspiriert, die meines Erachtens auch noch heute wegweisend für unseren Umgang mit der Natur sind. Vielen Leserinnen und Lesern ist sicher Douglas Adams als Autor geläufig, der mit "Last Chance to See" ("Die letzten ihrer Art") ein tragisch-komisches Denk- und Mahnmal für durch menschliche Rücksichtslosigkeit aussterbende Tierarten gesetzt hat.

Meine derzeitigen Lieblings-Autorinnen und Autoren aus Science Fiction und Fantasy sind (alphabetisch) Dan Abnett, David Brin, James S. A. Corey, Andreas Eschbach, E. K. Johnston, Cixin Liu, Tobias O. Meißner, Nnedi Okorafor, Terry Pratchett, Margaret Weis und Timothy Zahn – von Hard Science Fiction bis klassischer Fantasy. Besonders beeindruckt hat mich in den letzten Jahren die "Broken Earth Series" ("Die große Stille") von N.K. Jemisin. Das ist meiner Meinung nach ein Werk, das innovativ genug ist, um fast schon ein neues Genre irgendwo im Bereich zwischen Science Fiction und Fantasy zu eröffnen.

 

8) Hast du noch andere Talente, von denen du uns erzählen möchtest?

Karin, das weißt Du doch mit am besten! Es wird Zeit, dass wir mal wieder Schwert und Buckler in die Hand nehmen und die Klingen kreuzen! Schwertkampf bzw. historisches Fechten begleitet mich seit mehr als zehn Jahren. Bereits seit meiner Jugend habe ich eigentlich immer die eine oder andere Art von Kampfsport ausgeübt, und ich kann mir ein Leben ohne nur schwer vorstellen.

 

9) Wer sollte dein Buch lesen und warum?

Zunächst einmal natürlich alle, die sich ohnehin mit der Tierwelt der Komoren beschäftigen oder das wollen – am besten vor Ort! Für die haben wir das Buch geschrieben. Ich lege es aber auch allen ans Herz, die mit Büchern "auf Reisen" gehen, obwohl sie es sich dabei auf ihrer Couch gemütlich machen. Die Komoren sind nämlich ein ganz besonderes Reiseziel: Ein fantastischer Ort voller Wunder, der droht, in unserer schnelllebigen, globalisierten und lauten Welt einfach unterzugehen.

 

Danke für das Gespräch und die tollen, lebhaften Beschreibungen. Lasst uns alle zusammenhelfen, um unsere fantastische Erde zu erhalten.

 

 *[Anm. Karin:] Wer das Nano-Chamäelon sehen möchte, der klicke bitte auf einen der Interview-Links unten.

 

 

Links

Autorenwebseite: https://oliverhawlitschek.weebly.com/

Buchwebseite: https://www.indianoceanfieldguides.com/

Facebook: https://www.facebook.com/indianoceanfieldguides

Buchhändler: https://www.nhbs.com/en/title?slug=terrestrial-fauna-of-the-comoros-archipelago-faune-terrestre-de-larchipel-des-comores-book

Radio-Interview über das kleinste Chamäleon auf Times Radio (01.02.2021): https://twitter.com/TimesRadio/status/1356298770082750464?s=20https://twitter.com/TimesRadio/status/1356298770082750464?s=20Und%20mp3%20im%20Anhang.

Fernsehinterview über das kleinste Chamäleon auf BBC World News (05.02.2021): https://www.facebook.com/oliver.hawlitschek/videos/3634428500004353/